Der Bücherwurm
Sie hatte ein Rascheln gehört. Irgendwo hier! Sie griff nach einem der Bücher von einem der Stapel mit ungelesenen Büchern. Es raschelte nochmal, dann war es still.
Sie räumte die Bücher aus dem Regal. Erst vom ersten Brett. Dann wieder meinte sie, das Rascheln wäre von weiter oben gekommen und sie räumte nach und nach alle Regalbretter frei. Vorsichtig legte sie den letzten Stapel hinter sich auf den letzten freien Fleck auf dem Boden.
Nichts. Nicht mal Staub – so dicht hatten die Bücher im Regal gelegen. Es waren wirklich verdammt viele Bücher! Sie sollte mehr lesen. Stattdessen trieb sie sich lieber im Internet herum. Und damit nicht genug: Wenn ihr im Internet ein Buch interessant erschien, schaute sie gleich nach, ob sie es günstig gebraucht im Netz bekam. Meist war das der Fall.
Es waren gut und gerne 500 Bücher hinter ihr auf dem Boden. Sie seufzte. Nun musste sie wieder alle dort ins Regal bringen. Ihr Blick wanderte zurück zum Regal. Da raschelte es wieder. Dieses Mal kam es aber nicht vom Regal, sondern aus Richtung der Bücher am Boden.
Sie nahm jeden Stapel auseinander: Nichts. Dabei wunderte sie sich immer wieder darüber, welche merkwürdigen Bücher sie sich mal gekauft hatte. Einige waren auch geschenkt. Oh, stimmt – DAS war geliehen. Sie griff sich das Buch vom Stapel. Da war noch das Lesezeichen drin an der Stelle, an der sie aufgegeben und das Buch zurück auf den Stapel ungelesener Bücher gelegt hatte. Inzwischen war es ein ganzes Regal! Wie hatte es dazu kommen können?!
Nun, der nächste Tag war ein Samstag, sie ging zur Post, zwei Sendungen abholen, bestellte Bücher. Und dann war da noch der Öffentliche Bücherschrank in der Nähe. Schon wieder neue Bücher! Sie griff auch dort ein paar heraus. Langsam ahnte sie, wie es so weit kommen konnte. Sie hatte doch wirklich genug zu lesen daheim, warum dieser Hunger auf neue Bücher?
Sie kam nach Hause und räumte ihre Beute ein. So, nun war Schluß! „Kein Platz mehr im Regal!“
„Dann kauf ein neues Regal, aber pronto!“
„Warum sollte …,“ sie brach mitten im Satz ab. Wer hatte da gerade die Anweisung gegeben, ein neues Regal zu kaufen?
„Weil mir das alte Zuhause zu eng wird!“ Aus den Büchern formte sich ein Gesicht – ein runder Kopf, mit ein paar Borsten darauf,
Ein riesiger, runder Kopf! Sie trat einen Schritt zurück, stolperte über einen der heute abgeholten Kartons und fiel auf den Hintern!
„Was denn, was denn, noch nie einen Bücherwurm gesehen?“
„Ähm, sind die normalerweise nicht kleiner und leben vom Papier der Bücher?“
„DAS sind nur Käfermaden, ICH gehöre der Art der serpens libris gigantomalis an! Diese Spezies lebt in Stapeln ungelesener Bücher – wir SIND die ungelesenen Bücher, sobald eine gewisse kritische Masse überschritten wird. Daher brauche ich auch ein zweites Regal – ich bin doch heute wieder gewachsen!“
„Oh,“ sie musste dies erstmal verdauen. „Heißt das, wann immer ich Bücher neu anschaffe, wächst du?“
„Exakt. Ideale Lebensbedingungen hier: Bücherliebhaber ohne genügend Zeit zum Lesen – das lässt mich groß werden!“
Sie hatte sich jetzt gesamnelt, sprang aus dem Zimmer. Glücklicherweise war das ihr bis auf die Bücher ungenutzter Raum! Die Tür schloss sie sicherheitshalber ab.
Jetzt konnte sie erstmal in Ruhe ins Internet. Vielleicht gab es bei amazon ein Buch darüber, was man gegen diese Art Bücherwürmer tun konnte.
„Vergiss nicht, das Regal zu bestellen!“ klang es aus dem verschlossenen Raum.
Nun, sie fand nichts bei amazon, nichts bei Hugendubel und auch nichts bei Weltbild. Na klar, die lebten ja auch alle gut von ihren Buchkäufen. Denen lag gar nicht daran, dass sie aufhören könnte.
Sie googelte „serpens libris gigantomalis“. Tatsächlich, da gab es eine Seite im Netz.
„Haben Sie einen Wurmbefall?
Kleiner Test:
- Können Sie nicht aufhören, Bücher zu kaufen und sie dann ungelesen auf einen Stapel zu legen?
- Kommt es Ihnen so vor, als führten Ihre ungelesenen Bücher ein Eigenleben?
- Raschelt es manchmal im Regal?
- Ist das Regal unerklärlich staubfrei?
Haben Sie viermal mit „Ja“ geantwortet? Dann sind sie mit serpens libris gigantomalis infiziert.“
Es folgten mehrere Absätze über den Ursprung der Infektion, den idealen Lebensraum, den Lebenszyklus dieser Kreaturen („sie sterben oft erst mit ihrem Wirt“).
„Doch jetzt zum Wichtigen: Wie wird man die Biester los?
Nun, es gibt nur einen Weg: KAUFEN SIE KEINE NEUEN BÜCHER! GAR KEINE!! Lesen Sie nach und nach die alten. Oder noch besser, geben Sie die Stapel gleich ganz weg.
Nur so kann man den Wurm aushungern. Aber das Wichtigste lesen Sie in meinem Buch „Anti-SGL-Kur“. Kaufen Sie hier.
Sie klickte auf hier. Ein großes, rotes Fenster mit fetten schwarzen Buchstaben poppte auf:
„Ich hatte doch gesagt, kaufen Sie KEINE NEUEN BÜCHER! Gehen Sie und holen Sie sich ein Buch aus dem Regal!“
Gut, das würde Ihr nicht wieder passieren. Die Botschaft war angekommen. Sie schloss das Zimmer auf. Der Wurm schaute sie an. „Schon wieder da?“
Sie griff nach einem Krimi – Krimis lasen sich immer schnell. Sie wollte gerade das Buch aus dem Stapel ziehen.
„Nee – Krimis sind immer so langweilig. Am Anfang stirbt einer, dann wird ein Haufen Fragen gestellt und plötzlich weiß der Ermittler, wer der Täter ist.“
Stimmte auffallend. Vielleicht legte sie deswegen Krimis so gern nach ein paar Seiten weg. Mmh – mal sehen, da liegen noch historsiche Liebesromane. Leichte Kost für den Anfang.
„Nee, Liebesgeschichten sind auch langweilig, erst finden sich beide ganz attraktiv, dann hassen sie sich, irgend etwas Dummes passiert (einer von beiden wird verletzt oder krank) – und schließlich fallen sie sich um den Hals.“
Stimmte schon wieder. Vielleicht doch besser einen Fantasy-Schmöker mit klassischer Queste?
Auch hier erklangen Einwände, wiesen daraufhin, dass mit dem „Herrn der Ringe“ bereits alle Questen vorgezeichnet seien.
Ein Science-Fiction? War entweder so düster, dass sie deprimiert das Buch weglegen würde, oder so technisch, dass sie frustriert vom Jargon, das Buch auch weglegen würde.
Sie ging zurück zum Computer. So kam sie nicht weiter. Dort hatte sich die Botschaft geändert:
„Hat der Wurm sie überredet, dass Sie keine Lust auf irgendeine der Geschichten haben? Lassen Sie sich nicht entmutigen! Greifen Sie blind ein Buch heraus!“
Sie ging wieder zum Regal, schloss die Augen und griff nach einem Buch.
„Kunstgeschichte der Welt, ein kurzer Abriss“ versprach der 800-Seiten-Wälzer. Na, versprechen konnte man sich ja mal. Aber wieso um aller Welt hatte sie DAS mal gekauft? Musste ein Füllbuch in einer Zweitausendundeins-Lieferung gewesen sein.
Nein, so wurde das nichts. Zurück zum Computer.
„Hat der Wurm Ihnen ein langweiliges Buch andrehen wollen? Gut, dann müssen wir stärkere Waffen auffahren! Nehmen Sie an einer Buch-Challenge teil. In einem Jahr müssen Sie aus Ihrem Stapel ungelesener Bücher Werke aus den folgenden Kategorien gelesen haben, die Reihenfolge bestimmen Sie:“
Die Website listete 60 Kategorien auf:
„Ein von einer Frau geschriebener Krimi.
Eine Biographie über einen Mann, der schon mindestens 100 Jahre tot ist.
Ein von einem Paar geschriebenes Buch …“
und so ging es weiter und weiter.
Sie druckte sich die Liste aus und ging ans Regal:
Ein von einer Frau geschriebener Krimi – da! Nicht ganz leicht, das Buch aus dem Stapel zu lösen, aber damit hatte sie ihr erstes Buch.
Sie nahm sich alle paar Tage eine neue Kategorie vor, las im Urlaub manchmal ein Buch am Tag – und zusammen mit dem Verbot, neue Bücher zu kaufen (sie vermied alle Buchläden und folgte auch keinem Link zu einem InternetBuchhandel mehr) funktionierte es tatsächlich. Ihr Vorrat an ungelesenen Büchern schmolz langsam aber stetig dahin, und das Rascheln oder gar der Wurm kehrten nicht wieder.