Ich habe jetzt Clochemerle beendet, von den Lesern der Tips, Links and Suggestions-Kolumne des Guardian empfohlen.
Clochemerle ist eine fiktive Kleinstadt im Beaujolais, in dem Gabriel Chevallier seine bunten ländlichen Kleinstadtbewohner in der Art von Ehm Welk und Giovannino Guareschi (der erstere hat „Die Heiden von Kummerow“ geschrieben, der zweite das italienische, fiktive Dorf Boscaccio mit seinen Hauptcharakteren Don Camillo und Peppone bevölkert) aufs Korn nimmt, allerdings schrieb Chevallier sein Werk 14 Jahre vor Guareschi und drei Jahre vor Ehm Welk.
Der Plot ist schnell erzählt, das Buch (erster Teil einer Trilogie) ist ja auch nicht so dick wie Ehm Welks Werke und kommt auch nicht an die Dichte der Don Camillo-Geschichten heran:
1922, Oktober, der Bürgermeister, Piéchut, hat Geltungsbewusstsein, daher will er für sein ländliches Provinzkaff etwas Modernes schaffen, das dem Ort und damit ihm zur Ehre gereichen soll: Ein Pissoir.
Das, und vor allem der Standort, nahe bei der Kirche, erregt das Missfallen eines bereits älteren, frömmlerischen Fräuleins, die sich auf diesen Stand der Unerfahrenheit einen Menge einbildet. Als das Ding im April 1923 gebaut wird, zieht es die entleerungs-bedürftige, weil oft volltrunkene Meute dorthin, nicht immer wird dabei das Innere der Anstalt zum Ziel. Das aber bedeutet, dass das Fräulein nun sieht, was es angeblich nicht sehen will (warum sie sich dann am Fenster den Hals ausrenkt, sei jedem selbst überlassen). Sie wittert eine Attacke auf die unschuldigen Seelen, die jungen, noch unverheirateten Mädchen der Gemeinde, erregt sich darüber und gleich über alle moralischen Missstände, die sie wahrnimmt. So auch über die zwei gut aussehenden, Mittdreißigerinnen aus dem Ort, die eine Warenhausbesitzers Frau, die andere Gasthausbesitzers Frau, die sich gleichzeitig um einen dritten Mann streiten, der schon länger der ersteren die Ehe mit dem Warenhausbesitzer erträglich macht, der aber im Gasthaus wohnt und dort, bei einer Krankheit, der Wirtin zugänglich und der Händlerin unzugänglich wird …
Wie dann später sogar noch wegen des Pissoirs der Dorfheilige im August 1923 geköpft, danach 100 Soldaten nach Clochemerle beordert und am 19. September der Dorftrottel erschossen und die Wirtin angeschossen werden – nun, das ist der Plot des Buches – ich will ja nicht alles verraten.
Eigentlich eine Geschichte, wie ich sie gern lese. Und hätte Monsieur Chevallier diese Geschichte mit der liebevollen Hand eines Ehm Welk behandelt oder mit dem nachsichtigen Auge eines Giovannino Guareschis beäugt, ich wäre höchst erfreut und unterhalten gewesen, denn diese beiden Autoren lassen Menschen menscheln, ohne sie gleich mit der Klinge des Sarkasmus zu sezieren.
Nicht so Chevallier. Chevallier macht aus dem alten Fräulein, dessen Aufgeregtheit für diesen ganzen Skandal gesorgt hat, eine so bösartige Hexe, die er hinterher im Wortsinne nackt durch Clochemerle treibt, dass mir der Autor unangenehmer wurde als sein weiblicher Bösewicht. Und so hält es Chevallier mit allen Parteien. Jeder wird mit soviel Schwung durch den Mist gezogen, keiner geschont, immer gnadenlos. Wo Welk und Guareschi ihre irrenden Schäfchen mit Nachsicht betrachten, ist Chevallier unbarmherzig, holt noch das Mikroskop hervor, unter dem er die Leute seziert.
Was auch unangenehm ist, sogar mir, als fülliger fetter Person: Die Glorifizierung von üppig ausgestatteten Frauen. Dass ein Franzose die Liebe in seinem Text feiert, ist keine Überraschung (oh jeh, immer diese Vorurteile). Dass er aber alles, was von seinem persönlichen Geschmack abweicht ins Lächerliche treibt, dass er jegliches Verhalten von Frauen auf ihren Befriedigungszustand zurück führt, dass er Frauen entweder als wollüstig oder als frigide darstellt, dass geht mir sehr gegen den Strich. Und natürlich ist das ältliche Fräulein bei ihm mager. Er beschreibt sie in der Szene, in der er sie unbekleidet durch den Ort laufen lässt, als knochig (es ist eine ältere Frau, eine ärmliche noch dazu, wo sollte sie die Mittel hernehmen, um sich zu mästen?), und die von jungen Leuten vor einigen Jahren so gefeierten „thigh gaps“ waren für ihn der größte Horror (nun, der Geschmack hat sich in 80 Jahren deutlich gewandelt, Monsieur Chevallier). Das arme Fräulein konnte einem leid tun, aber Chevallier war erbarmungslos.
Das und das ständige Durchbrechen der vierten Wand hat verhindert, dass ich an Clochemerle das gleiche Vergnügen empfand wie an Guareschis Geschichten oder an Welks Werken. Ich konnte mich in diese Geschichte nicht so recht versenken. Ein volles Viertel hat Chevallier gebraucht, um überhaupt sein Personal vorzustellen (nicht während der Geschichte – sondern jeder Akteur trat vor und die Stimme aus dem Off beschrieb ausführlich die Fehler dieser Person – eine Charakterisierung, wie sie ein guter Autor durch die Geschichte selber leistet). Auch während des eigentlichen Plots kommt uns unser Autor immer wieder „an den Bühnenrand“, hält das Geschehen an und erläutert. Ein schlechteres Beispiel für Erzählen hab ich noch nicht gefunden – außer bei einer meiner frühesten Geschichten … Doch ich habe nicht veröffentlicht. Dieses ständige Herausreißen aus der Geschichte durch den Autor ist wohl die größte Schwäche. Zusammen mit der Frauenfeindlichkeit und der Unmenschlichkeit, mit der er sich über alle seine Charaktere mokiert hat das zu einem Urteil von 2 Kokosnüssen geführt. Zwei, weil ich mich immerhin nicht gelangweilt habe.
Gabriel Chevallier – Clochemerle
Erstveröffentlichung 1934, erstmalig auf Deutsch 1960, meine Ausgabe von 1971.
272 Seiten
Fischer Taschenbuch
Aufgabe erfüllt: 18 – Ein Buch, in dem Politik oder Religion eine Rolle spielen (hier: Beides)